Page 3 - Luzerner Stadtwoche - KW 50 - 2021
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DIENSTAG, 14. DEZEMBER 2021                                                                                                                                  SEITE 3






                                                   FORTSETZUNG

          Da ist es für unsere Mitarbeiten-                                 Credo ist: «Keine Revolution,
          den täglich eine Herausforde-                                     sondern Evolution». Künftig ver-
          rung, alles optimal zu verteilen.                                 suchen wir, gute Dinge noch bes-   Mit spitzer Feder …
                                                                            ser zu machen. Daran müssen
          Armut war damals ein Tabu-                                        wir gemeinsam täglich arbeiten.
          thema. Wie hat sich die Armut                                     Der Gedanke «Gut auch in klei-                    High Heels –
          in den letzten 20 Jahren zahlen-                                  nen Dingen» soll uns dabei täg-
          mässig, aber auch gesellschaft-                                   lich begleiten.
          lich verändert?                                                                                                     sicherer Tod
          Man wusste damals, dass rund                                      Wie wird das 20-Jahr-Jubiläum
          10 Prozent der Bevölkerung von                                    gefeiert?                                         oder Revival?
          Armut betroffen waren, dachte                                     Wir hatten Anfang September
          aber, dies sei selbstverschuldet.                                 eine  kleine  Jubiläumsfeier  mit
          Heute weiss man, dass es viele                                    den Mitarbeitenden und Vertre-     Mit Anfang 20 denkt man, dass  rich nimmt beim Gehen demnach
          Gründe geben und jeden treffen                                    tern des Stiftungsrates und des    sich einige Dinge nie ändern wer-  die typische S-förmige Krüm-
          kann. Seit einigen Jahren wer-                                    Gönnervereins. Wir waren zu        den: Freundschaften halten ein  mung der Wirbelsäule ab. Je hö-
          den offizielle Armutsquoten pub-                                  Gast bei einem unserer Abneh-      Leben lang, man bekommt nie-    her der Absatz, desto gerader der
          liziert. Diese zeigen, dass Armut                                 mer, dem Jugenddorf Knutwil.       mals Falten und graue Haare –  Rücken und aufrechter der Gang.
          über den Kreis der Sozialhilfebe-                          Bild: zVg  Mit den Lebensmitteln, die wir   und  solange  man sich auf  den  Und das wirkt sich auf die Anzie-
          ziehenden hinausgeht. 735'000  Engagiert: Marc Ingold ist seit dem   dort abgeben, wurde ein wun-    Beinen halten kann, läuft man in  hungskraft, wie wir längst wissen.
          Menschen lebten gemäss aktu-     1. Oktober der neue Geschäftsleiter   derbares Menu für uns gekocht.   High Heels durch die Welt. Rund
          ellen Zahlen des Bundesamtes  der Schweizer Tafel.                Ansonsten haben wir das Jubi-      15 Jahre später haben sich ei-  An High Heels scheiden sich die
          für Statistik im Jahr 2019 unter                                  läum kommunikativ genutzt.         nige Freundschaften in Luft aufge-  Geister. Die einen stilisieren sie zu
          der Armutsgrenze, darin sind  geworfen, was nicht nur die Um-     Zum Beispiel haben wir uns mit     löst, dafür zieren Falten und graue  einer Art anti-feministisches Folter-
          die Corona-Auswirkungen noch  welt stark belastet, sondern auch  einem neuen Logo und einer          Haare immer mehr das Äussere.  instrument, das nicht nur die Be-
          nicht enthalten.                 das Haushaltsbudget. Wir stellen  neuen  Website ein  modernes      Und die High Heels landen gerade  wegungsfreiheit  von  Frauen  ein-
                                           aber fest, dass sich gerade in den  Kleid verpasst und auf den so-  in Päckchen an Frauen, die noch  schränkt, sondern auch noch der
          Wird die Armut in der Schweiz  letzten Jahren immer mehr Pro-     zialen Netzwerken unsere Part-     daran glauben, mit ihnen glücklich  Gesundheit immens schadet. Die
          aufgrund der Pandemie wie-       jekte dieser Thematik annehmen  ner und Lebensmittelabnehmer        werden zu können. Marilyn Mon-  anderen wiederum sehen sie als
          der steigen? Spüren Sie das bei  und auch die Schulen schon ei-   über unsere Arbeit zu Wort kom-    roe soll mal gesagt haben: «Gib ei-  Zeichen von Stärke, Selbstbe-
          Schweizer Tafel?                 niges machen, um die Kinder zu  men lassen. Das ist wichtig, da-    ner Frau die richtigen Schuhe und  wusstsein und modischem Mut.
          Wir gehen davon aus, dass die  sensibilisieren. Man müsste aber  mit wir noch mehr Leute errei-      sie kann die Welt erobern.» Nun  Die Frage, ob High Heels noch
          Armut in der Schweiz als Folge  meiner Meinung nach gerade im  chen und aufzeigen können, wie        war auch die talentierte Marilyn  eine Zukunft haben oder gar je-
          von  Corona  zugenommen  hat.  Bereich Bildung noch mehr ma-      wichtig unsere Arbeit zur Linde-   nicht unbedingt für ihr praktisches  mals wieder richtig modern sein
          Wir beobachten bei unseren täg-  chen. Also noch stärker in die  rung der Armut und Rettung von      Schuhwerk bekannt, sondern da-  können, die gab es natürlich schon
          lichen Einsätzen, dass sich die  Lehrpläne aufnehmen, wie man  Lebensmitteln ist und bleibt.         für, einen Absatz ihrer hochhacki-  vor der Pandemie. Frauen, die mit
          Situation der bedürftigen Per-   einen Ressourcenschonenden                                          gen Schuhe kürzen zu lassen, um  der Mode gehen, haben den High
          sonen seit Frühjahr 2020 weiter  Lebensstil pflegt.               Was sind in der aktuellen Situ-    ihren Hüftschwung noch stärker  Heels schon länger abgeschwo-
          verschärft hat. Auch wenn dazu                                    ation die grossen Herausforde-     zu betonen. Immerhin hat sie da-  ren und sind auf Loafer, Sneaker
          noch keine verbindlichen Zah-    Welchen gesellschaftlichen  rungen?                                 mit tatsächlich die Welt erobert.  oder klobige Stiefel umgestiegen.
          len vorliegen, spüren wir deut-  Stellenwert messen Sie Organi-   Bereits seit 20 Jahren sammeln     Die Welt erobert hat auch das  Auch die breite Masse hat inzwi-
          lich: Es werden mehr Lebens-     sation wie der Schweizer Tafel  wir überschüssige Lebensmit-        Coronavirus und damit die High  schen den Reiz der flachen Sohlen
          mittel nachgefragt und wir be-   heute bei?                       tel und verteilen sie an armuts-   Heels aus dem Strassenbild ver-  für sich entdeckt, die Nachfrage
          dienen auch mehr Abgabestel-     Organisationen wie unsere sind  betroffene Menschen. Nun drän-      drängt. Es ist offensichtlich, dass  ist überproportional hoch. Ein bal-
          len als vor der Pandemie.        für die Gesellschaft nicht mehr  gen neue Player auf den Markt,     seit dem Lockdown vermehrt fla-  diges Comeback der High Heels
                                           wegzudenken. Einerseits, weil  die monetär gesteuert sind.          che Schuhe zum Zug kommen.  zeichnet sich vorerst einzig in «Sex
          Welche Faktoren erhöhen das  die Versorgung mit Lebensmit-        Diese sind für die Lebensmit-      Nach 20 Corona-Monaten fragen  an The City»-Neuauflage «And
          Armutsrisiko?                    teln neben dem Wohnen die un-    telspender interessant. Erstens    sich Frauen – worüber sich Män-  Just Like That» ab, die im Dezem-
          Wer keinen Zugang zu einer  mittelbarste Form für die Linde-      bringen sie Frequenzen in die      ner übrigens schon längst wun-  ber startet. Nun ich bedaure das
          Arbeit hat, die ein selbsttragen-  rung von Armut ist. Wir können  Läden, und zweitens gibt es für   dern – warum sie freiwillig Schuhe  sehr. High Heels sind für mich, die
          des Einkommen ermöglicht, ist  schnell und unbürokratisch hel-    die  Ware,  welche  bald  abläuft,   mit hohen Absätzen tragen. Wa-  grossen Wert auf Ästhetik legt,
          besonders  gefährdet.  Betroffen  fen, ohne lange Abklärungen und  noch einen kleinen Betrag. Die    rum sie Schmerzen in Kauf neh-  eine optische Offenbarung – ein-
          sind Menschen ohne Bildungs-     Anträge. Diese direkte Hilfe ist  meisten Konsumenten glauben,      men für mehr Attraktivität. Nun  fach unvergänglich schöne, edle
          abschluss, aber auch Menschen,  gerade in Krisenzeiten entschei-  dass eine «Non Profit Organisa-    mit den diversen Anlässen, Kon-  Klassiker.  Ich  wünschte  es  sehr,
          die Mühe haben, Betreuungs-      dend und schliesst eine Lücke  tion» dahintersteckt – was aber      zerten und Events sind die Mög-  dass dies so bleibt.
          pflichten und Erwerbsarbeit zu-  im System. Andererseits wirken  nicht so ist. Zudem werden die      lichkeiten wieder da, die schö-
          sammenzubringen, wie zum Bei-    wir der Lebensmittelverschwen-   gekauften Waren, die als «Über-    nen, hohen Absatzschuhe zu prä-  Letztes Jahr im Zuge von Jogging-
          spiel Alleinerziehende. Auch ge-  dung (Foodwaste) entgegen, eine  raschungspäckli» deklariert wer-  sentieren. Bloss fühlen sie sich für  hosen-Looks und Zoom-Kleidung
          sundheitliche Einschränkungen  zweite grosse gesellschaftliche  den, nur noch zum Teil verzehrt.     viele Frauen plötzlich zu eng und  überschlugen sich die Medien bei
          können ein Armutsrisiko dar-     Herausforderung unserer Zeit.    Daraus ergibt sich wiederum        klein an. Ist dies Einbildung oder  der Frage, wie es jetzt mit hohen
          stellen. Generell sind ausländi-                                  Foodwaste und wir bekommen         schmerzen sie mehr als früher?  Hacken weitergehen solle – und
          sche Staatsangehörige eher ge-   Seit dem 1. Oktober 2021 sind  weniger Ware, die wir direkt Be-     Die hohen Hacken fühlen sich un-  kamen nicht selten zum Schluss,
          fährdet,  besonders  wenn  sie  Sie neuer Geschäftsleiter der  dürftigen weitergeben könnten.        bequemer denn je an – so scheint  dass sie nun endgültig ihrem Ende
          keine unserer Landessprachen  Schweizer Tafel. Wie erleben  Wir müssen neue Wege suchen              es jedenfalls, wenn man die zahl-  geweiht seien. Doch ist das wirk-
          sprechen. Wird der Zugang zu  Sie Ihren Job und was erfüllt  und Partnerschaften knüpfen,            reichen Passantinnen auf der  lich  so?  Nicht  wenige  Trendfor-
          Sozialleistungen verschärft,  Sie dabei?                          um auch künftig sicherzustel-      Strasse beobachtet.             scher prophezeien für die Zeit
          kann dies die Armutsbetroffen-   Ich bin nach wie vor voll in mei-  len, dass wir unsere Vision «Es-                                 nach der Pandemie neue Goldene
          heit ebenfalls verschärfen.      ner Einführungszeit. Fast täg-   sen verteilen – Armut lindern»     Dass hohe Hacken und Komfort  Zwanziger. Ein Jahrzehnt voller
                                           lich erlebe ich neue Sachen. Der  täglich erfüllen können.          sich in der Regel ausschliessen,  Hedonismus, Vergnügungssucht
          Ein grosses Thema ist Food  Job ist äusserst vielfältig und er-                                      ist ja nichts Neues: Absatzschuhe  und Glamour. Ein Jahrzehnt wie
          Waste – 2,6 Millionen Tonnen  füllend. Bei meiner «Tour de  Was sind die Pläne und Pro-              führen zu verkürzter Wadenmus-  gemacht für High Heels, oder? Die
          einwandfreier Lebensmittel  Suisse» lerne ich neue Leute  jekten in nächster Zeit für  die           kulatur, deformierten Zehen, Hal-  Symbolkraft von High Heels wird
          werden in der Schweiz jährlich  kennen, die alle für die gleiche  Schweizer Tafel?                   lux, Arthrose im Kniegelenk und  sich womöglich wandeln, zu ei-
          weggeworfen. Wo findet Food  Sache einstehen und ihr Bestes  Aus meiner heutigen Sicht gibt          so  weiter.  Ausserdem  steigt die  nem Ausdruck aller Sehnsüchte,
          Waste statt und wie erfolgreich  geben. Jeder einzelne Mitarbei-  es künftig zwei grosse Herausfor-  Gefahr für Zerrungen, Verstau-  die in der Pandemiezeit zurück-
          ist die Sensibilisierung auf diese  tende, von Kerzers über St. Gal-  derungen: Bekämpfung der ver-  chungen und Frakturen, wenn  stecken mussten. Sie könnten
          Problematik?                     len, Zürich, Basel, Luzern, Bern  steckten Altersarmut sowie die    man High Heels trägt. Das ist der  Freizeitschuhe sein, nichts Offiziel-
          Der Detailhandel achtet heute  bis nach Lausanne macht täglich  Bekämpfung von Foodwaste im          Tenor verschiedener Studien. Aus  les mehr. Wahrscheinlich ist auch,
          viel stärker auf die Vermeidung  einen super Job. Das freut mich  privaten Bereich. Wir werden       gesundheitlicher Sicht spricht  dass bequeme Heels noch be-
          von Lebensmittelabfällen als frü-  ungemein.                      diese zwei Themen im 2022 er-      also Vieles gegen Absätze. Aller-  deutender werden, also solche mit
          her und nimmt seine Verantwor-                                    örtern und uns eingehend Ge-       dings können sie auch entschei-  moderaten Absatzhöhen und Ab-
          tung im Bereich Nachhaltigkeit  Wo setzen Sie Prioritäten bei  danken machen, wo und wie wir         dende Vorteile haben: Sie lassen  sätzen, die vielleicht nicht so dünn
          sehr ernst. Der Hauptanteil von  Ihrer Arbeit?                    in diesen Bereichen unterstüt-     einen grösser und attraktiver wir-  wie ein Stiletto sind.
          Foodwaste geschieht heute vor  Meine Priorität ist zurzeit, mit  zen können.                         ken – nicht nur wegen den zusätz-
          allem in privaten Haushalten,  möglichst vielen Leuten zu spre-                                      lichen Zentimetern, sondern auch  Herzlichst,
          also bei uns Konsumentinnen  chen, eifrig zu beobachten, viele         Interview: Corinne Remund     wegen der Körperhaltung. Ge-    Ihre Corinne Remund
          und Konsumenten. Da werden  Fragen zu stellen und mir eine                                           mäss einer Studie der ETH-Zü-   Verlagsredaktorin
          noch viel zu viele Produkte weg-  Übersicht zu verschaffen. Mein       www.schweizertafel.ch
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