Page 11 - Luzerner Landwoche - KW 18 - 2021
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DIENSTAG, 4. MAI 2021 SEITE 11
Auf dem Weg in die Moderne
KAUFLEUTE 2022 UND VERKAUF
2022 + – Die beruflichen Grundbil-
dungen im Detailhandel und im kauf-
männischen Sektor trimmen sich fit
für die Zukunft. Sie werden umfas-
send reformiert. Was wird neu? Und:
Was bringen diese Umstrukturierun-
gen den Lehrbetrieben und den Ler-
nenden?
Arbeitswelt – und damit die Berufsbil-
dung. Das spüren zwei der grössten Be- von Nationalrat
rufsfelder besonders stark: Der Detail- Franz Grüter
handel und der kaufmännische Sektor.
Einkaufen ist heute oft ein «crossmedia-
les» Erlebnis. Die Kundinnen und Kun- Bild: PEXELS Filmchen, vereinbart einen Termin,
den orientieren sich im Internet und Künftig digital, fit und kreativ: Detailhandels- Wie digital checkt den Kalender, zahlt per Twint,
kaufen im Laden; oder sie bestellen im fachleute und Kaufleute sollen mit einer mo- telefoniert mit einem Kunden, bestellt
Internet und holen die Waren am Pick- dernen angepassten beruflichen Grundbildung darf die Schweiz eine Pizza, kauft online ein, schaut
up-Point ab. «Detailhandelsfachleute neue Kompetenzen gewinnen. das Wetter nach oder prüft den SBB-
brauchen daher neue Kompetenzen. Sie sein? Fahrplan.
müssen digital fit sein; aber auch kreativ, Dieser Paradigmenwechsel soll verhin-
um im Laden attraktive Einkaufserleb- dern, dass die Lernenden träges Wissen Das Smartphone ist kleines Büro und
nisse zu schaffen», weiss Sven Sievi, erwerben, das sie im Alltag nicht anwen- Unterhaltungsprogramm zugleich.
Geschäftsführer Bildung Detailhandel den können. Wie wichtig das ist, streicht Wir Menschen sind widersprüchlich. Wunderbar und nicht wegzudenken.
Schweiz BDS. auch Michel Fischer, Geschäftsführer Wir wissen, dass zu viel Süsses unge- Aber eben: Der Mensch ist wider-
Organisation kaufmännische Grundbil- sund ist – und nehmen trotzdem noch sprüchlich. Wir schimpfen darüber,
Auch der Büroalltag hat sich in den letz- dung OKGT, Branche Treuhand/Immo- ein Dessert oder einen feinen Berliner dass die Leute zu viel ins Handy star-
ten Jahren stark gewandelt. Kaufleute bilien hervor: «Der Fachkräftemangel ist zwischendurch. Wir drücken den Lift- ren oder in der Berghütte zuerst nach
handeln heute in agilen Arbeits- und eine der grossen Herausforderungen der knopf, obwohl die zwei, drei Treppen dem WLAN fragen… aber seien wir
Organisationsformen, interagieren in Gegenwart und der Zukunft. Wir haben schnell gelaufen wären. Und selbstver- ehrlich: Sind wir so viel anders?
einem vernetzten Umfeld und arbeiten mit «Kaufleute 2022» die Möglichkeit, ständlich kämpfe ich mit den gleichen
mit neuen Technologien. Das setzt tech- die kaufmännische Grundbildung so zu Widersprüchlichkeiten im Leben wie Mit dem Faxgerät in die Zukunft?
nische Fertigkeiten, eine digitale Denk- gestalten, dass sie einerseits den Bedürf- die meisten anderen auch. Wie digital soll die Schweiz sein? Zu
weise, kritisches Hinterfragen, Kreativi- nissen des Arbeitsmarkts gerecht wird, Beginn der Pandemie zeigte sich, dass
tät sowie Sozial- und Selbstkompetenz andererseits spannend und herausfor- Dass der Mensch widersprüchlich ist, die Ärztinnen und Ärzte gewisse Daten
voraus. Doch egal, ob Detailhandels- dernd für die Lernenden bleibt. Gelingt ist eigentlich normal und auch kein per Fax ans Bundesamt für Gesund-
fachmann oder Kauffrau: Junge Berufs- uns das, wird es für die Betriebe auch Problem, solange wir unseren eigenen heit senden mussten. Das ist mehr
leute müssen insbesondere auch dazu in Zukunft attraktiv sein, Lernende aus- Widersprüche bewusst sind. Wir wis- als peinlich und verhinderte schnelles
befähigt werden, mit den Veränderun- zubilden und für den eigenen Branchen- sen, dass zu wenig Bewegung unge- Handeln auf Basis verlässlicher Fak-
gen in Wirtschaft und Gesellschaft um- nachwuchs zu sorgen.» Und National- sund ist, auch wenn wir aus Bequem- ten. Bis heute hat es der Bund nicht
zugehen. rätin (FDP/BL), Präsidentin Treuhand lichkeit dann doch schnell das Auto geschafft, ein funktionierendes Con-
Suisse sowie sgv-Vizepräsidentin Da- nehmen. tact-Tracing einzurichten. Die Covid-
Fit für den Wandel werden niela Schneeberger doppelt nach: «Mit App hat sich nicht durchgesetzt.
Die Förderung überfachlicher Kompe- Kaufleute 2022 haben wir die Chance, Mir fällt auf, dass auch bei vielen di-
tenzen ist deshalb ein zentraler Bestand- die kaufmännische Berufslehre noch gitalen Themen eine grosse Kluft be- Gerade der Staat zeigt, dass er den
teil der Reformen in den vier berufli- mehr an der Berufspraxis auszurichten steht zwischen den privaten Ansprü- digitalen Möglichkeiten hinterherhinkt.
chen Grundbildungen «Detailhandels- und unsere zukünftigen Fachkräfte auf chen und dem politischen Verhalten. Oder dann unprofessionell vorgeht wie
fachfrau/-mann EFZ», «Detailhandelsas- die zunehmend digitale Arbeitswelt vor- Oder anders gesagt: Herr und Frau beim Datenleck bei der Impfplattform.
sistent/-in EBA», «Kauffrau/-mann EFZ» zubereiten.» Schweizer stehen sehr skeptisch ge- Oder bei der geplanten Einführung von
und «Büroassistent/-in EBA». Dazu Ro- genüber politischen Projekten wie dem E-Voting, wo erst nach grossem Wi-
land Hohl, Geschäftsleiter der Interes- Attraktiver und E-ID-Gesetz, das eine sichere (freiwil- derstand, und öffentlichen Intrusions-
sengemeinschaft Kaufmännische Grund- wettbewerbsfähiger werden lige!) Identifizierung im Internet ermög- tests, eklatante Schwachstellen und
bildung Schweiz IGKG Schweiz: «Junge Die Reformen sollen auf Lehrbeginn licht hätte. Die Vorlage wurde mit über Mängel offengelegt werden konnten.
Berufsleute müssen lernen, ihr Erfah- 2022 in Kraft treten, die Arbeiten dazu 64 Prozent der Stimmen abgelehnt. Das ist ärgerlich, weil damit das Ver-
rungswissen in immer neue Situatio- laufen seit 2018. Sie basieren auf umfas- Gleichzeitig nutzen Herr und Frau trauen der Bevölkerung in wichtige di-
nen zu übertragen und sich selbststän- senden Berufsfeldanalysen. Ziel ist, die Schweizer problemlos das E-Ban- gitale Projekte verloren geht. Zum Bei-
dig neues Wissen anzueignen.» Weitere Berufe attraktiver und wettbewerbsfä- king oder die Kundenkarte beim De- spiel gegenüber der 5G-Technolo-
zentrale Bestandteile der Reformen sind higer zu machen. Dazu gehört, dass die tailhändler. Und zwar freiwillig. Weil es gie. Und hier sind wir wieder bei den
die konsequente Umsetzung der Hand- Umsetzungsinstrumente für die Lehr- praktisch ist und Vorteile bietet. Widersprüchen angelangt: Die mobil
lungskompetenzorientierung in Verbin- betriebe konsequent unter den Aspek- übertragene Datenmenge verdoppelt
dung mit einer ganzheitlichen Lernort- ten der Ausbildungsbereitschaft und der Wetter, Fahrplan, Selfie sich alle 18 Monate. Nicht einfach so,
kooperation. Lehrstellenförderung entwickelt wer- Ich bin mir nicht ganz sicher, ob sich sondern weil wir alle mit der Nutzung
den. Das gute Kosten-Nutzen-Verhältnis die Menschen ihres widersprüchli- unserer Smartphones kräftig dazu bei-
Im Klartext bedeutet dies: Wissen und wird beibehalten, die betriebliche Aus- chen Verhaltens im digitalen Bereich tragen. Gleichzeitig wird die Weiterent-
Fertigkeiten werden an allen Lernorten bildungskompetenz gestärkt.Da es zwi- immer bewusst sind. Wir beschweren wicklung der 5G-Technologie politisch
im Rahmen konkreter Anwendungssitu- schen dem Detailhandel und dem kauf- uns, wenn mal der Handy-Empfang bekämpft von Leuten, die ein paar Mi-
ationen vermittelt. Was auf den ersten männischen Sektor zahlreiche Über- nicht optimal ist – aber die Antenne nuten vorher noch ihr Smartphone ge-
Blick banal erscheint, hat nachhaltige schneidungen gibt – insbesondere bei im Quartier muss nicht sein. Die Leute braucht haben, um einen Anti-5G-Post
Auswirkungen auf die Berufsfachschu- den Berufsfachschulen – haben Bund, sorgen sich um den Datenschutz beim auf Facebook zu platzieren…
len und die überbetrieblichen Kurse. Sie Kantone und die Organisationen der digitalen Impfpass – aber sie bewegen
müssen ihre didaktischen Konzepte um- Arbeitswelt ein Nationales Koordina- sich in den sozialen Medien und stel- Ich bin mir bewusst, dass die Digita-
stellen. An den Berufsfachschulen wird es tionsgremium NKG für die Umsetzungs- len dort weit mehr private Informatio- lisierung Sorgen und berechtigte Be-
zum Beispiel keine Fächer mehr geben. phase geschaffen. Es fördert die Koope- nen zur Verfügung. Gemäss aktuellen denken etwa zur Datensicherheit aus-
Wirtschaft, Sprachen usw. werden in pra- ration zwischen den Lernorten und stellt Erhebungen nutzen 4,6 Millionen Men- löst. Auch ich habe gewissen Projek-
xisnahen Aufgabenstellungen vermittelt. den Dialog mit allen Partnern sicher. Das schen in der Schweiz Facebook, 2,7 ten gegenüber eine sehr kritische Hal-
Joe Purtschert, Rigi-Sport AG, Zustän- ermöglicht eine nachhaltige Umsetzung Millionen nutzen Instagram. tung. Aber wer nur die Risiken sieht,
dig für die Aus-Weiterbildung des Sport- der Reformen, was Lehrbetrieben und verpasst die Chancen. Die Schweiz
händlerverbands, Mitglied Kernteam Lernenden zugutekommt. Die Digitalisierung ist eine Realität. ist erfolgreich geworden dank Innova-
Verkauf 2022+konkretisert: «Die bei- Neun von zehn erwachsenen Perso- tion. Wir müssen aufpassen, dass un-
den Megatrends ‹Kundennutzen-Orien- nen in der Schweiz haben ein Smart- ser Land den digitalen Anschluss nicht
tierung› und ‹Digitalisierung› werden in Corinne Remund phone und nützen es fast täglich. Wir verliert und damit Arbeitsplätze und
den Schwerpunkten ‹Gestalten von Ein- schauen die E-Mails an, schreiben Wohlstand.
kaufserlebnissen› und ‹Betreuen von On- eine Nachricht, schiessen ein Selfie.
line-Shops› abgebildet. Die Betriebe ha- www.bds-fsc.ch Man informiert sich über das Handy,
ben die Wahl, in welchem Schwerpunkt www.skkab.ch liked einen Beitrag, guckt ein lustiges
sie ausbilden wollen.» www.igkg.ch